Artikel „Personalienverweigerung – Tabu oder Option?“

Unser Artikel über die Veranstaltung zum Thema Personalienverweigerung im Februar ist nun in der Rote Hilfe Zeitung (RHZ) veröffentlicht. Die Zeitung könnt ihr hier downloaden oder im Infoladen Heilbronn erwerben. Den Artikel findet ihr auch im Folgenden:

Personalienverweigerung – Tabu oder Option?

Bericht über eine Veranstaltung der OG Heilbronn
Genoss*innen aus der OG Heilbronn

Nachdem bereits im MRB 02/2018 unter diesem Titel das für und wider davon diskutiert wurde, ohne Ausweispapiere in Aktionen zu gehen, hat die OG Heilbronn die Frage in einer Veranstaltung aufgegriffen. Dabei war es uns wichtig, mit Kolleg*innen und Genoss*innen ins Gespräch zu kommen, die in den Antirepressionsstrukturen von „Ende Gelände“ Erfahrungen mit Personalienverweigerung als politische Strategie und rechtliche Taktik gesammelt haben. Nach einem Input von zwei Vertreter*innen des „Legal Team für alle“ haben wir gemeinsam über Wege der Bewegung in die Personalienverweigerung sowie den rechtlichen Rahmen, Chancen, Risiken, Nebenwirkungen und offene Fragen dieser Praxis diskutiert. Der Abend brachte spannende Einblicke in Antirepressionsansätze der Klimagerechtigkeitsbewegung und wird von uns als Teil eines ebenso wichtigen wie notwendigen Dialogs verstanden.

Personalienverweigerung: Eine neue Praxis entsteht

Klimacamp 2013. Etwa 300 Menschen aus verschiedenen europäischen Ländern bereiten sich im Rheinland auf die Blockade einer Braunkohlebahn vor. Britische und französische Aktivist*innen wundern sich über deutsche Eigenheiten: „Wir nehmen nie unsere Ausweise auf Aktionen mit“. Die Entscheidung, bewusst die eigene Identifizierung zu behindern und nicht mit Repressionsorganen zu kooperieren, stellt dabei zunächst eine politische Strategie dar. Eine politische Strategie, die auch ganz praktische Auswirkungen hat: Während diejenigen mit Personalpapieren bei der anschließenden Räumung kontrolliert werden und Unterlassungserklärungen erhalten, kommen die (vorerst) nicht Identifizierbaren ohne zivil- oder strafrechtliche Folgen frei. Ein Jahr später gehen erstmals deutsche Aktivist*innen ohne Ausweise in die Aktion und 2015 entsteht mit „Ende Gelände“ eine Struktur und Bewegung, die die Angabe von Personalien weitgehend verweigert und damit erfolgreich ist. Die zivil- und strafrechtlichen Konsequenzen – Unterlassungserklärungen mit empfindlichen Konventionalstrafen und Strafbefehle – sind in Anbetracht der Teilnehmer*innenzahlen gering, insbesondere im Vergleich zu den Folgen von Aktionen, bei denen Personalien angegeben wurden.

Personalienverweigerung wurde also nicht von Antirepressionsstrukturen empfohlen sondern entwickelte sich organisch aus der internationalen Vernetzung von Akteur*innen und der erlebten Effektivität dieser Praxis. Seit Aktivist*innen auch in Deutschland gezielt und massenhaft ohne Papiere in Aktionen des zivilen Ungehorsams gehen, haben Antirepressionsgruppen gelernt, mit dieser Entscheidung umzugehen. Außerdem mussten sie Wege finden, das neue Aktionsverständnis praktisch zu unterstützen, etwa durch die anonyme Individualisierung von EA-Arbeit mit Aktionsnummern. Entsprechend hoben die Vertreter*innen des „Legal Team für alle“ hervor, dass es ihnen keinesfalls um eine Wertung bestimmter Vorgehensweisen gehe. Menschen, die mit Ausweis an Protesten teilnehmen werden genauso unterstützt wie diejenigen, die sich dagegen entscheiden. Genauso wenig gibt es eine „offizielle“ Position der Rechtshilfestruktur für oder gegen einen bestimmten Umgang mit den eigenen Personalien. Vielmehr besteht nach Einschätzung des Legal Team die Aufgabe aktiver Antirepressionsarbeit darin, verschiedene Praktiken aus der Bewegung solidarisch zu unterstützen und möglichst umfassend über ihren rechtlichen Hintergrund und mögliche Konsequenzen zu informieren.

Rahmen, Risiken und Chancen von Personalienverweigerung

„Legal Team für alle“ und „Ende Gelände“ geben dementsprechend Positionspapiere und umfangreichere Broschüren zu Risiken und Chancen von Personalienverweigerung heraus, die viele der im MRB 02/2018 benannten Punkte reflektieren (siehe etwa : https://www.ende-gelaende.org/wp-content/uploads/2019/05/190516_ID_VW_DE_final.pdf und https://www.ende-gelaende.org/wp-content/uploads/2019/06/rechtsbroschuere_nrw_mai_2019.pdf). Die Weigerung, Personalien anzugeben, stellt für Bürger*innen der EU und der Schweiz eine Ordnungswidrigkeit dar, die mit Bußgeld geahndet werden kann. Für alle anderen besteht zum einen die gesetzliche Pflicht, Ausweise oder andere Identitätspapiere mitzuführen. Zum anderen kann die Personalienverweigerung für sie unter Umständen einen Straftatbestand erfüllen. Außerdem eröffnet die Verweigerung von Personalien nach den Polizeigesetzen der Länder (zur Gefahrenabwehr) und der StPO (zur Strafverfolgung) den Polizeibehörden die Möglichkeit, eine Reihe von Maßnahmen der Identitätsfeststellung vom Gewahrsam bis zur ED-Behandlung durchzuführen.

Diese teilweise sehr empfindlichen und weitreichenden Eingriffe stellen dann auch das Hauptrisiko von „Aktivismus ohne Papiere“ dar. Es gibt im Klartext keine Garantie dafür, nicht auch ohne Mitnahme des Ausweises identifiziert und für Aktionen belangt zu werden. Dies gilt umso mehr, wenn personenbezogene und biometrische Daten bereits erfasst worden sind oder von der Norm abweichende äußere Merkmale eine Individualisierung von Aktivist*innen erleichtern. Außerdem steigt bei Personalienverweigerung nicht nur das Risiko in U-Haft zu kommen, sondern auch die Gefahr, psychischem und physischem Druck oder willkürlichen Maßnahmen durch Polizeibeamt*innen ausgesetzt zu sein. Angst vor Identifizierung im Nachgang von Aktionen kann den eigenen Aktionsradius einschränken und die Soli-Arbeit erschweren, etwa wenn bei Verfahren gegen Aktivist*innen umfassende Personalienkontrollen durchgeführt werden, wie das nicht nur im Rheinland längst üblich ist.

Dem stehen nach Einschätzung des „Legal Team für alle“ eine Reihe von Vorteilen und positiven Erfahrungen mit breit und kollektiv praktizierter Personalienverweigerung gegenüber. Insbesondere bei großen Aktionen kommen polizeiliche Kapazitäten für ED-Behandlung und Gewahrsamnahme schnell an ihre Grenzen. Eine vollumfängliche Individualisierung oder längerfristige Festsetzung einiger hundert Aktivist*innen sei logistisch in der Regel kaum zu leisten. Dementsprechend sinke das individuelle Risiko straf- oder zivilrechtlicher Repression für Aktivist*innen und der allgemeine Kostenaufwand für nachträgliche Antirepressionsarbeit erheblich. Dabei gelte allerdings auch, dass der Repressionsdruck und die Wahrscheinlichkeit der Individualisierung für anonym agierende Personen steige, wenn kleinere Gruppen in Aktion treten, etwa auch bei Kleingruppenaktionen innerhalb großer Proteste. Die nachträgliche Identifizierung von Aktivist*innen habe dabei bisher oft eher durch unsystematischen Fotoabgleich zwischen Klein- und Großgruppenaktionen oder Zufall stattgefunden, als durch systematischen Datenbankabgleich.

Erfahrungen und offene Fragen aus einer (nicht mehr so) neuen Praxis

Außer dem auf bis zu sieben Tage verlängerten Identitätsfeststellungsgewahrsam in NRW, auch als „Lex Hambi“ bekannt, thematisierten die Vertreter*innen des „Legal Team für alle“ weitere Konsequenzen von Personalienverweigerung für Aktivismus und Antirepressionsarbeit. Tendenziell könne innerhalb aktivistischer Netzwerke Druck zu konformem Verhalten entstehen. Damit sei zu befürchten, dass Diskussionen innerhalb von Bezugsgruppen auf die Frage der Personalienverweigerung und der Fokus von Aktionen auf ganz bestimmte Formen reduziert werde. Außerdem sei anonymisierte Soli-Arbeit nicht immer einfach. Zwar hat das Legal Team die Erfahrung gemacht, dass auch Namenlose aus dem Gewahrsam telefonieren und sich anwaltlich vertreten lassen können. Die solidarische Begleitung von Prozessen durch befreundete Aktivist*innen gestaltet sich allerdings schwierig, wenn Menschen aus Angst vor Identifizierung nicht mehr als Prozessbeobachter*innen auftreten.

Organisations- und Antirepressionsstrukturen müssen auf solche Probleme reagieren. Handreichungen zur Personalienverweigerung arbeiten die rechtlichen, politischen und psychologischen Ausgangsbedingungen dieser Praxis in immer differenzierterer Form heraus. So geben etwa aktuelle Positionspapiere von „Ende Gelände“ keine eindeutige Empfehlung für oder gegen Personalienverweigerung ab. Vielmehr betonen sie, wie wichtig eine offene, solidarische und vertrauensvolle Diskussion über die Frage des Umgangs mit Personalien innerhalb der Bezugsgruppe ist. Dort muss eine Auseinandersetzung über Repression erfolgen, die nicht auf die Frage „Personalienverweigerung ja oder nein?“ bzw. „Wie verklebe ich meine Fingerkuppen am effektivsten?“ beschränkt bleiben darf. Vielmehr geht es darum gemeinsam abzuklären, was jeder und jedem Einzelnen Angst macht, wo die Grenzen psychischer Belastbarkeit liegen und welche medizinischen, beruflichen und familiären Gesichtspunkte dem eigenen Aktivismus Grenzen setzen können. Antirepression, Self-Care, Awarenesss und Out of Action greifen also ineinander, was sich unter anderem in den Bezugsgruppenseminaren des Legal Team widerspiegelt.

Darüber hinaus haben direkte Aktionen der Klimagerechtigkeitsbewegung das Verständnis und die Realität von Repression auch auf andere Weise verändert. Im Kontext von „Ende Gelände“ treten neben Aktivist*innen und Vertreter*innen der Staatsgewalt fast immer privatwirtschaftliche Akteur*innen wie Energiekonzerne und deren Betreiber*innen auf. Deshalb kommt der Frage nach den privatrechtlichen Folgen zivilen Ungehorsams immer größere Bedeutung zu. Schadensersatzansprüche wegen Blockadeaktionen lassen sich (bisher) rechtlich nur schwer schlüssig begründen. Allerdings hat insbesondere RWE Unterlassungsansprüche gegen Teilnehmer*innen, die bei Zuwiderhandlung wegen des hohen Streitwertansatzes drastische Vertragsstrafen nach sich ziehen, geradezu inflationär eingesetzt. Bevor Aktivist*innen darauf mit Personalienverweigerung reagierten, konnte der Konzern so ihre Aktionsmöglichkeiten empfindlich einschränken. Konsequenterweise haben Antirepressionsgruppen aus der Bewegung deswegen die Arbeit zu zivilrechtlicher Repression und ihren Grenzen intensiviert, etwa indem sie versuchen die hohen Streitwerte von Unterlassungsansprüchen gerichtlich anzufechten. Damit bereiten sie sich nicht zuletzt auf die Möglichkeit vor, dass technische und rechtliche Grundlagen für eine weitaus umfassendere nachträgliche Identifizierung von Aktivist*innen geschaffen werden.

Auf geht‘s, ab geht‘s: Ein vorläufiges Fazit

Festzuhalten bleibt, dass Personalienverweigerung auf kollektiven Prozessen beruht und auf spezifische Aktionskontexte zugeschnitten ist. Dort wurden damit gute Erfahrungen gemacht und Aktionsräume eröffnet, die sonst wahrscheinlich kaum so breit genutzt worden wären. Auf andere Situationen, etwa überschaubare städtische Szenen, in denen Polizei und Staatsschutz ihre üblichen Verdächtigen sowieso kennen, oder Kleingruppenaktionen, lässt sich die Praxis aber nicht einfach übertragen. Ob und wie sich Personalienverweigerung als legitimes Aktionskonzept außerhalb von Großaktionen der Klimagerechtigkeitsbewegung durchsetzt, wird sich nur praktisch zeigen.

Als OG haben wir für unsere Diskussion über Personalienverweigerung mitgenommen, dass der kritisch-solidarische Austausch zwischen Roter Hilfe, Klimagerechtigkeitsbewegung und anderen Antirepressionsstrukturen notwendig und wichtig ist. Dies gilt umso mehr, als Aktivist*innen Personalienverweigerung praktizieren und wir deshalb damit umgehen müssen. Eine offene, inhaltliche und fundierte Diskussion über diese Praxis ist dabei entscheidend. Weder wir noch andere Antirepressionsgruppen können Aktivist*innen die Entscheidung über ihren Umgang mit Personalienverweigerung abnehmen. Wie sich jede*r Einzelne dazu verhält, hängt von individuellen und kollektiven Entscheidungsprozessen in konkreten Aktionskontexten ab. Personalienverweigerung ist nicht der neue goldene Weg im Umgang mit Repression, sondern ein kontextabhängiges Werkzeug. Wie sinnvoll es eingesetzt werden kann, beruht auf der eigenen Entscheidung für oder gegen eine Aktion und Aktionsform vor dem Hintergrund von Diskussionen in Bezugsgruppen. Diese Entscheidungs- und Diskussionsprozesse können und dürfen wir nicht vorwegnehmen.