Berichte zum letzten Castor-Prozess

Im Folgenden dokumentieren wir einen Artikel der Kontext Wochenzeitung über den Prozess gegen Cécile Lecomte. Weitere Informationen über ihren Prozess und die Tage in Ordnungshaft finden sich auf ihrer Homepage.

In den Knast für ein Kikeriki

Von Minh Schredle // Datum: 08.05.2019 // Ausgabe 423
Eine rheumakranke Umweltaktivistin landet drei Tage im Gefängnis, weil sie vor Gericht wie ein Hahn gekräht hat. Anschließend verweigert die Haftanstalt Cécile Lecomte ihre ärztlich verschriebene Medikation. Ein skandalöser Vorgang aus Heilbronn, bei dem der verantwortliche Richter ein unrühmliches Bild abgibt.

Kaltes Wasser ist gefährlich, das weiß auch das Ordnungsamt Heilbronn. Und deshalb, so führt eine Mitarbeiterin der Stadt vor Gericht aus, sah sich die Behörde gezwungen, einzuschreiten. Um selbstschädigendes Verhalten zu verhindern – damals am 16. November 2017.

Passiert ist folgendes: Ein Containerschiff verfrachtet radioaktive Brennstäbe über den Neckar, vom Atomkraftwerk Obrigheim nach Neckarwestheim. Dagegen wollen UmweltaktivistInnen protestieren, schwimmend, in Neoprenanzügen und mit aufblasbaren Gummienten. Um 9:12 Uhr, so steht es im Einsatzprotokoll der Polizei, erfolgt die erste Durchsage über Lautsprecher: Die städtische Versammlungsbehörde hat entschieden, die Demonstration auflösen zu lassen. Als sieben Minuten und zwei weitere Durchsagen später immer noch Menschen im Wasser sind, werden die Ordnungshüter aktiv und wenden Zwang an.

Im Wasser ist an diesem Tag auch die langjährige Anti-Atom-Aktivistin Cécile Lecomte, Jahrgang 1981, die in der öko-sozialbewegten Szene unter dem Spitznamen „Eichhörnchen“ bekannt ist. „Die Menschen haben das Stereotyp im Kopfe, dass Menschen mit Behinderung nichts können, weil sie eben behindert sind“, schreibt Lecomte auf ihrem Blog, und fragt, ob man es den Betroffenen nicht selbst überlassen kann, „einzuschätzen, was sie können und was sie nicht können?“ 2004 ist Lecomte an Rheuma erkrankt, wobei sich ihre Mobilität zunehmend verschlechtert: Ende 2017 war sie noch mit Krücken unterwegs, heute ist sie Kletteraktivistin mit Rollstuhl – was regelmäßig für verdutzte bis ungläubige Rückfragen sorgt.

Ohne fremde Hilfe, erzählt Lecomte, war es ihr an jenem 16. November nicht möglich, die Uferböschung am Neckar hinaufzuklettern. Aus dem Wasser zogen sie schließlich Polizisten, mit schmerzhaften Griffen, wie sie sagt, alle Hinweise auf ihre eingeschränkte Mobilität ignorierend. Obendrein verdonnert die Stadt Heilbronn sie zu einem Bußgeld von 150 Euro, weil sie sich nicht schnell genug entfernt hat.

Das will sich Lecomte nicht gefallen lassen, sie legt Einspruch ein gegen den Bußgeldbescheid. Die 37-Jährige ist ein freiheitsliebender Mensch, reagiert allergisch auf Bevormundung, autoritäre Persönlichkeiten sind ihr ein Graus. Allein die Auflösung der Demonstration betrachtet die Aktivistin als rechtswidrig: „Absurder geht es ja kaum“. Denn Bild- und Videoaufnahmen belegen unzweifelhaft, dass das Transportschiff mit dem Atommüll die Versammlung gefahrenfrei umfahren konnte und exakt das tat. Der einzige Grund – oder Vorwand, wie Lecomte es nennt –, den das Ordnungsamt anführen konnte, um die Demonstration aufzulösen, war eine Selbstgefährdung durch niedrige Wassertemperaturen. „Nach dieser Logik“, argumentiert sie, „müsste man auch konsequenterweise das Bergsteigen verbieten.“

Wiedersehen vor Gericht

Nun muss man dazu wissen, dass die Aktivistin das Amtsgericht Heilbronn kennt. Den dort tätigen Richter Michael Reißer ebenfalls. Bereits vor einem Jahr, am 11. April 2018, waren sie aneinandergeraten. Schon damals ging es um Bußgelder, die im Zuge von Protesten gegen Atommüll-Transporte verhängt worden waren. Schon damals sollte die Verhandlung eskalieren. „Aus Versehen“, wie Richter Reißer laut einem Bericht der „Heilbronner Stimme“ vorgetragen hat, wurden Lecomte Gerichtsdokumente nicht zugestellt. Mit der Folge, dass sie im Vorfeld keine Möglichkeit zur Akteneinsicht hatte. Als das vor Gericht zur Sprache kommt, wird der Prozess unterbrochen, um der Betroffenen eine Stunde zu gewähren, in der sie die 130 Seiten studieren soll. Nach der Pause geht es nur noch kurz weiter: Als Zuschauer Äußerungen des Richters mit Zwischenrufen und Gelächter quittieren, lässt Reißer den Saal räumen und verweist auch Lecomte des Saals. Sie habe den Richter zuvor angeschrien, wie die „Stimme“ meldete: „Nachdem Richter Reißer fünf Zeugen vernommen hatte, ließ er Lecomte wieder in den Gerichtssaal hereintragen.“ Da sie keinen Verteidiger hatte, berichtet Lecomte, war ihr jede Gelegenheit genommen, etwas auf die Wortbeiträge entgegen zu können. Sie wird schließlich zu zwei Bußgeldern à 100 Euro verurteilt.

Ein Jahr später, am 28. März 2019, sitzen sich die beiden wieder gegenüber, ein Befangenheitsantrag von Lecomte ist abgelehnt worden. Wieder eskaliert die Lage, diesmal noch heftiger. Insgesamt drei Wahlverteidiger hatte die Umweltaktivistin beantragt – die Richter Reißer allesamt abwies. „Es handelte sich jeweils um sogenannte Laienverteidiger ohne juristisches Studium beziehungsweise juristische Ausbildung“, begründet das ein Sprecher des Gerichts. Diese Ausführungen treffen allerdings auch auf Lecomte zu, die sich selbst verteidigen muss, weil ihr auch ein Pflichtverteidiger nicht gewährt wird. Sie bringt 17 Beweisanträge auf 60 Seiten ein – die Richter Reißer allesamt abweist.

„Am Arsch vorbei“ kostet 300 Euro

Dann, am zweiten Verhandlungstag, rutscht Lecomte ein verhängnisvoller Satz heraus. „Ich weiß, dass Ihnen meine Beweisführung am Arsch vorbeigeht“, habe sie gesagt, das bestätigt ein knappes Dutzend Augenzeugen gegenüber Kontext. Richter Reißer wertet das als grobe Beleidigung des Gerichts und verhängt ein Ordnungsgeld von 300 Euro gegen die Aktivistin. Als diese daraufhin das Krähen eines Hahnes imitiert, ändert der Richter das Strafmaß: drei Tage Ordnungshaft mit sofortigem Vollzug. Das protestierende Publikum fliegt raus, ein gutes Dutzend Zuschauer hört von draußen nur noch die Schmerzensschreie ihrer Freundin: Lecomte wird von Polizisten aus dem Sitzungssaal abtransportiert und in die Justizvollzuganstalt Hohenasperg verbracht, wo ihr die Medikation verweigert wird. Unter anderem werden Cannabiskekse beschlagnahmt und vernichtet, die der chronisch Erkrankten ärztlich verschrieben sind. Lecomte bekommt einen Rheumaschub, der mit Krampfanfällen und Schlafentzug verbunden ist. „Das war wie Folter „, erinnert sie sich.

Die medizinische Versorgung in Haftanstalten sei ein schwieriges Thema, kommentiert Rechtsanwalt Oliver Tolmein, der Lecomte unterstützte, eine Genehmigung für medizinisches Cannabis zu erstreiten. „Bei einer laufenden Therapie, wenn ein verschreibungspflichtiges Medikament ärztlich verordnet ist, kann eine Haftanstalt nicht einfach sagen: ‚Nein, das finden wir nicht so gut, das machen wir anders'“. Er sieht hier einen Verstoß gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit und will Lecomte bei einer möglichen Klage gegen die Haftbedingungen wie auch bei einer Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Richter Reißer beraten.

Vor Gericht wie ein Hahn zu krähen, sei zwar „kein Verhalten, das ich meinen Mandanten als Anwalt empfehlen könnte“. Aber die Reaktion des Richters erscheint ihm völlig unverhältnismäßig. „Der Freiheitsentzug“, sagt Tolmein, „stellt einen gravierenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte dar, dafür gibt es erhebliche Schwellen.“ Im vorliegenden Fall sieht er keine Legitimation für Ordnungshaft. „Ich habe viele, viele heftige Auseinandersetzungen vor Gericht erlebt“, betont er, „aber ich habe noch nie miterlebt, dass ein Richter so weit gegangen ist, einen Menschen seiner Freiheit zu berauben, weil er das Gericht in seinen Augen missachtet hat.“

Die Aktivistin bleibt aktiv – im Hambacher Forst

Richter Reißer, der es tat, will sich gegenüber Kontext offenbar nicht zu den Vorgängen äußern, obwohl er auch Pressesprecher am Amtsgericht ist. Die Anfrage der Redaktion beantwortet ein Stellvertreter schriftlich, der in eigentümlichem Beamtendeutsch bestätigt: „Es ist zutreffend, dass ein lauter langgezogener Hahnenschrei der Schlusspunkt des Verhaltens der Betroffenen war, der letztlich nach vorangegangenem ungebührlichen Verhalten, das zunächst mit einem Ordnungsgeld geahndet worden war, zur Verhängung von drei Tagen Ordnungshaft geführt hat.“ Die Frage, ob diese Entscheidung auch im Nachhinein als angemessen beurteilt wird, ignoriert das Amtsgericht.

Dass Richter Reißer die Gelegenheit nicht nutzen mag, sich öffentlich zu positionieren, ist auch deswegen spannend, weil er sich politisch engagiert: In Untergruppenbach, einer 8000-Einwohnergemeinde nahe Heilbronn, tritt der 37-Jährige als Kandidat bei den bevorstehenden Kommunalwahlen an. Auf Listenplatz 11 für die CDU.

Lecomte, die seit dem 14. April wieder frei ist, wird indessen auch Wochen später das „Gefühl von Willkür“ nicht los. Die drei Tage in Haft haben sie belastet, körperlich und geistig. Aber sie freut sich über die breite Solidarität, die sie in den vergangenen Wochen erlebt hat. „Vom Aktivismus lasse ich mich bestimmt nicht abschrecken“, kündigt sie an – und lässt dem prompt Taten folgen: Bereits wenige Tage nach ihrer Entlassung aus der JVA ist sie unterwegs in den Hambacher Forst. Um dort, als Workshop-Leiterin, bewegungseingeschränkten Menschen zu zeigen, wie sie hoch in die Bäume kommen. „Dort lässt es sich so wunderbar entspannen.“

Quelle: https://www.kontextwochenzeitung.de/gesellschaft/423/in-den-knast-fuer-ein-kikeriki-5905.html